Für den Blinden gleicht die Kante des Bürgersteigs einem Felsvorsprung: Noch einen Schritt weiter, und er begibt sich in tödliche Gefahr. Obwohl er weder einen verläßlichen Hund noch einen Freund an seiner Seite weiß, stoppt der Blinde rechtzeitig an der roten Fußgängerampel. Ein winziges Mikrophon in seinem Ohr hat ihn gewarnt, lange bevor sein weißer Stock das Ende des Fußweges ertastet.
Das könnte bald Alltag eines Blinden sein. Die visuelle Wahrnehmung vor dem akustischen Befehl übernimmt vorerst noch im Testlabor eine spezielle Computerbrille, die der Blinde trägt. Sie ist mit einem stationären, kühlschrankgroßen Riesen-Rechner verbunden, der über acht Prozessoren verfügt. "MOVIS ist das weltweit erste Computer-Bilderkennungssystem für Blinde", erklärt Hans Burkhardt, Direktor der Abteilung für Mustererkennung am Institut für Informatik der Ludwig-Alberts-Universität in Freiburg. MOVIS, das für "Mobiles optoelektronisches System für Blinde und Sehbehinderte" steht, bedeutet indes noch viel mehr: Computer lernen sehen.
"Der entscheidende Schritt ist die Transformation einer zweidimensionalen Aufnahme in reale 3D-Strukturen", erklärt Burkhardt die Hauptherausforderung der sogenannten Computer-Visions-Systeme. Tatsächlich kann eine Videokamera Aufnahmen ihrer Umgebung in digitalisierter Form an den Computer weitergeben. Doch wie aus der Flut dieser digitalen Information ein Haus, einen Zebrastreifen oder gar das Gesicht eines Menschen zusammensetzen? Spezielle Algorithmen, in Kleinstarbeit ausgetüftelte mathematische Rechenvorschriften für den Computer, führen zum Ziel. Mit raffiniertem Formelwerk gefüttert, beginnt der Rechner, die eingehenden Bilder in Linien aufzudröseln. Eine Telefonzelle, ein Baum oder ein Auto zu 300 000 und mehr solcher Linien zerfasert ein Superrechner alles, was die Kamera liefert.
Aus diesem Knäuel gilt es, die zusammengehörigen Linien
herauszufiltern und sie als Gegenstände oder Menschen zu
identifizieren. "Zwei bis drei Sekunden vergehen, bis MOVIS die Daten
der Computerbrille auswertet", sagt Burkhardt. Acht parallel rechnende
Prozessoren leisten die entsprechende Mammutarbeit. "In einigen
Jahren werden die Bilder sofort erkannt werden, davon bin ich
überzeugt", glaubt der Informatiker.
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V. Georgescu / M. Vollborn